Anpassen oder nicht von Anreden?
Tópico cartaz: Heinrich Pesch
Heinrich Pesch
Heinrich Pesch  Identity Verified
Finlândia
Local time: 02:43
Membro (2003)
finlandês para alemão
+ ...
Dec 13, 2009

Dies bezieht sich also auf Literaturübersetzungen!

Üblich ist ja seit Urzeiten, dass man Anreden so lässt, wie sie im Original gebraucht werden. Also in deutschen Übersetzungen von russischen Romanen reden sich die Leute mit Rodion Romanowitsch oder Jelisaweta Iwanowna an. Auf deutsche Verhältnisse wäre die Anrede je nach persönlichem Verhältnis und Stellung "Herr Raskolnikow" oder "Rodion", nie aber Rodja, weil es ja für Rodion keine Koseform im Deutschen gibt.

... See more
Dies bezieht sich also auf Literaturübersetzungen!

Üblich ist ja seit Urzeiten, dass man Anreden so lässt, wie sie im Original gebraucht werden. Also in deutschen Übersetzungen von russischen Romanen reden sich die Leute mit Rodion Romanowitsch oder Jelisaweta Iwanowna an. Auf deutsche Verhältnisse wäre die Anrede je nach persönlichem Verhältnis und Stellung "Herr Raskolnikow" oder "Rodion", nie aber Rodja, weil es ja für Rodion keine Koseform im Deutschen gibt.

In englischsprachigen Kriegsfilmen schreien die deutschen Personen: "Jawohl, Herr Oberscharführer!", anstatt auf gut Englisch "Yes, sir" zu sagen. Und umgekehrt in deutschen Filmen: wieso brüllt der amerikanische Unteroffizier: "Jawohl, Sir!", statt "Jawohl, Herr Oberleutnant"?

Dies sind also Übersetzungsgewohnheiten, aber wäre Anpassung sinnvoller? Ich glaube, zumindest bei dem Beispiel der russischen Romane könnte eine Anpassung das Verständnis erleichtern. Dann brauchte man nicht immer im Personenverzeichnis nachschauen, wer den gerade gemeint ist. (In den Originalfassungen gibt es kein Personenverzeichnis, weil dem russischen Leser die Zuordnung leicht fällt).

Wie denkt Ihr darüber?

Gruß
Heinrich
Collapse


 
Matthias Quaschning-Kirsch
Matthias Quaschning-Kirsch  Identity Verified
Alemanha
Local time: 01:43
Membro (2006)
sueco para alemão
+ ...
Bin selbst nicht ganz schlüssig Dec 13, 2009

Zu Dostojevskijs Zeiten gab es ja noch ganz andere Anredeformen (vaschestvo, vasche vysoko-prevoschoditeljstvo, also Euer Hochwohlgeboren usw.), die ich in den entsprechenden deutschen Übersetzungen auch recht erfrischend finde.

Auch würde ich z.B. in Übersetzungen aus dem Persischen etwas vermissen, wenn Iraner aus gutbürgerlichen Familien ihre Eltern plötzlich duzen würden. Es würde eben das spezifische Flair fehlen. Übersetzungen dürfen und sollen ja schließlich auch fr
... See more
Zu Dostojevskijs Zeiten gab es ja noch ganz andere Anredeformen (vaschestvo, vasche vysoko-prevoschoditeljstvo, also Euer Hochwohlgeboren usw.), die ich in den entsprechenden deutschen Übersetzungen auch recht erfrischend finde.

Auch würde ich z.B. in Übersetzungen aus dem Persischen etwas vermissen, wenn Iraner aus gutbürgerlichen Familien ihre Eltern plötzlich duzen würden. Es würde eben das spezifische Flair fehlen. Übersetzungen dürfen und sollen ja schließlich auch fremd anmuten, wenn von fremden Dingen die Rede ist. Da gebe ich Wilhelm von Humboldt recht, wenn er die "ekle Scheu vor dem Ungewöhnlichen" anprangert.

Aber es gibt eben auch sehr schwierige Fälle: z.B. bei der persischen Anrede Qurbân. Das kommt über das Arabische aus dem Aramäischen und bedeutet "Opfer". Es ist die Kurzform von: "(Ich) Opfer(e mich für Sie)", was sich vielleicht äußerst unzulänglich mit "Ihr ergebenster Diener" übersetzen läßt, was aber stilistisch i.d.R. überhaupt nicht passen würde. Natürlich läßt sich mit Glossaren im Anhang alles mögliche bewerkstelligen, aber ich mag es eigentlich nicht, beim Lesen dauernd nach hinten blättern zu müssen, um wieder mal irgendetwas nachzuschlagen.

Der im Englischen verbreiteten Sitte, andere in Verbindung mit dem Vornamen zu youzen, ist dagegen oft mit dem Hamburger Sie abzuhelfen.

Soweit erstmal dieses kleine Kaleidoskop zu den Problemen, die sich vor einem auftürmen können.

Wolfgang Butt stellt seiner deutschen Übersetzung von Henning Mankells Roman "Die fünfte Frau" folgende Vorbemerkung voran: "Der mit den schwedischen Verhältnissen vertraute Leser wird in der vorliegenden Übersetzung das in Schweden durchgängig gebrauchte Du als Anredeform vermissen. Es wurde, soweit es sich nicht um ein kollegiales oder freundschaftliches Du handelt, durch das fden deutschen Gepflogenheiten entsprechende Sie ersetzt, auch wenn damit ein Stück schwedischer Authentizität des Textes verlorengeht."

Letzteres zeugt von systematischem Mut zur Lücke, und der ist vielleicht am Ende für die Qualität entscheidend. Demnach käme es innerhalb der Übersetzung eines bestimmten Buches oder einer Erzählung nicht auf durchgängige Einheitlichkeit an, sondern auf Kohärenz. Wenn man beides miteinander verwechselt, hat man verloren. Trotzdem bleibt es immer schwierig, diesen Mittelweg zu finden. Je nachdem, was für Personen mitspielen und wie ihre Beziehungen zueinander aussehen, wird man diese Linie wol immer wieder neu ziehen müssen.
Collapse


 
Inga Gottschalk
Inga Gottschalk
Local time: 01:43
letão para alemão
+ ...
Gute Frage. Es kommt auf die Zielgruppe an! Dec 13, 2009

Es wurden bereits viele gute Argumente zusammengetragen, sowohl für als auch gegen die beiden Optionen. Auch mir selber sind beim Lesen weitere Pro und Contras eingefallen. Zunächst war ich daher ebenfalls unschlüssig. Daraus wurde es mir schon mal klar, dass wir die Sache individuell und differenziert betrachten müssen, dass pauschale Antworten hier nicht zielführend sein können.

Die wichtigste Entscheidungshilfe wäre aus meiner Sicht die Zielgruppe. Ist es ein Kinder- oder
... See more
Es wurden bereits viele gute Argumente zusammengetragen, sowohl für als auch gegen die beiden Optionen. Auch mir selber sind beim Lesen weitere Pro und Contras eingefallen. Zunächst war ich daher ebenfalls unschlüssig. Daraus wurde es mir schon mal klar, dass wir die Sache individuell und differenziert betrachten müssen, dass pauschale Antworten hier nicht zielführend sein können.

Die wichtigste Entscheidungshilfe wäre aus meiner Sicht die Zielgruppe. Ist es ein Kinder- oder Jugendbuch, so würde ich ganz klar für die Anpassung sämtlicher Anreden plädieren, um dem Nachwuchs sein Spaß am Lesen nicht zu verderben!

Ist das Buch aber sowieso schon niveauvoll und wendet sich die Übersetzung dementsprechend an exclusive akademische Kennerkreise, an Bildungseliten, so würde ich dieser Zielgruppe durchaus auch anspruchsvolle Fußnoten, ellenlange Personenverzeichnisse sowie ausführlice Vor- und Nachworte mit diversen Hintergrundinformationen voller exotischen Flairs zumuten, denn diese Zielgruppe mag und sucht ja gerade sowas.

Ist das Buch etwas dazwischen - Krimis, Geschichtsromane u.ä. - so würde ich als Übersetzerin zunächst selber gründlich über die Zielgruppe nachdenken, und diese auch mit dem Auftraggeber sowie nach Möglichkeit auch mit sonstigen Experten besprechen. Wer wird dieses konkrete Buch in der Zielsprache nach getaner Übersetzungsarbeit wohl lesen? Welche Zielgruppe soll ich also als Übersetzerin ansprechen? Ist die Zielgruppe festgelegt, so würde ich dann auch meine Übersetzungsstrategien konsequent auf diese Zielgruppe hin ausrichten.

Viele Grüße -
Inga

P.S. Ich kann zwar kein Arabisch. Aber könnte nicht `hingebungsvoll´ im geschilderten Opfer-Sachverhalt u.U. die richtige Übersetzung sein, wenn denn die Anpassungsstrategie gewählt werden soll?
Collapse


 
Nadine Kahn
Nadine Kahn  Identity Verified
Alemanha
Local time: 01:43
inglês para alemão
+ ...
Welche Situation ist gegeben? Welche Stimmung soll einfließen? Dec 13, 2009

Heinrich Pesch wrote:

In englischsprachigen Kriegsfilmen schreien die deutschen Personen: "Jawohl, Herr Oberscharführer!", anstatt auf gut Englisch "Yes, sir" zu sagen. Und umgekehrt in deutschen Filmen: wieso brüllt der amerikanische Unteroffizier: "Jawohl, Sir!", statt "Jawohl, Herr Oberleutnant"?



Das hat m. E. auch damit zu tun, welche Stimmung rübergebracht werden soll. Soll man sich einen amerikanischen Sergeant in voller Montur vorstellen oder ist das für die Szene irrelevant? Steht da ein deutscher Leutnant von der Bundeswehr oder bleibt es beim amerikanischen Lieutenant? Die Anreden sind für mich teilweise wie ein kulturelles Gut, wenn man so will. Man versucht doch, den restlichen Text so weit anzupassen, dass der Zuschauer oder Leser über nichts Fremdes stolpert. Anreden sind da die beste Methode, um hin und wieder daran zu erinnern, wo der Schauplatz des Ganzen ist. Was mir dabei allerdings schon negativ aufgefallen ist, ist, dass im AE oft "Mom" und "Dad" stehen bleiben. Ich denke, das dies wirklich überzogen klingt, aber wenn es der Auftraggeber so verlangt, ist es schwer, das Schema zu durchbrechen.

Schwer fällt es mir, den Übergang zu finden, wo man glaubhaft vom Siezen zum Duzen übergehen kann. Man stelle sich zwei Personen vor, die sich neu kennen gelernt haben. Man siezt sich - davon gehe ich zumindest anfangs aus. Einige Szenen fallen weg und plötzlich ist man per Du. Schließlich kann man damit nicht immer bis zum ersten Kuss warten. Das nötige Einfühlungsvermögen für die unterschiedlichsten Situationen muss wie immer der Übersetzer mitbringen, sofern er sich nicht an Vorgaben zu halten hat.

Leider kenne ich mich im Russischen nicht aus, aber man denke nur mal an die Verniedlichung "Väterchen". Das kenne ich nur aus Märchen, ist aber sofort mit Russland in Verbindung zu bringen. Außerdem gibt es andere feste Bestandteile der deutschen Sprache (Datsche, Troika, Wodka "Wässerchen" etc.), die man nicht missen will. Fakt ist doch, man sollte die Leserschaft auch nicht unterfordern. Wenn sich jemand für ein bestimmtes Wort oder Eigenheiten interessiert, wird man es sowieso nachschlagen. Es gibt ja zum Glück Anmerkungen in Büchern.


 


Não há um moderador designado especificamente para este fórum.
Para reportar violações às regras do site ou para obter ajuda, favor contatar a equipe do site »


Anpassen oder nicht von Anreden?






TM-Town
Manage your TMs and Terms ... and boost your translation business

Are you ready for something fresh in the industry? TM-Town is a unique new site for you -- the freelance translator -- to store, manage and share translation memories (TMs) and glossaries...and potentially meet new clients on the basis of your prior work.

More info »
Anycount & Translation Office 3000
Translation Office 3000

Translation Office 3000 is an advanced accounting tool for freelance translators and small agencies. TO3000 easily and seamlessly integrates with the business life of professional freelance translators.

More info »